Die Pharmaindustrie hat Selbsthilfegruppen für das Marketing entdeckt.
Rund 70 000 Initiativen mit drei Millionen Mitgliedern gibt
es in Deutschland. Sie besitzen ein für die Konzerne unschätzbares
Kapital: ihre Glaubwürdigkeit. Die staatliche Unterstützung ist in
den letzten Jahren zurückgegangen, den meisten Gruppen fehlt Geld.
Unterstützung finden sie bei Pharmaunternehmen, die sie finanzieren
und manipulieren. Von dieser Investition verspricht sich die
Branche beträchtlichen Gewinn.
Gesponserte Selbsthilfegruppen werben auf ihren Websites für verschreibungspflichtige
Medikamente – was für Pharmafirmen verboten
ist – verbreiten Therapieempfehlungen und verschaffen den
Unternehmen Zugang zu Patientengruppen für ihre Studien. Pharmanahe
Brustkrebsinitiativen haben die öffentliche Meinungsführerschaft
erobert. Selbsthilfegruppen sind so nützlich, dass die Industrie
im Zweifel selber welche gründet, wenn es zu einem Krankheitsbild
noch keine gibt.
Martina Keller
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin
in Hamburg, für Zeit, Brigitte, Geo Wissen und
Öko-Test. Außerdem ist sie Radiojournalistin
für die Hörfunksender der ARD.
Mittwoch, 1. März 2006
Jishin – Gespaltene Erde
Beobachtungen im Erdbebenland Japan
Malte Jaspersen
Empfohlene Notfallausrüstung: Trinkwasser und Proviant für mehrere
Tage, Taschenlampe, Batterien, Radio – Japan lebt mit
Erdbeben. Die meisten sind kaum spürbar, manche aber von zerstörerischer
Gewalt, so 1995 in Kobe und 2004 in der Präfektur
Niigata. Die Tsunami-Katastrophe zu Weihnachten 2004 löste auch
in Japan erhebliche Befürchtungen aus. Unter der Pazifikküste
schieben sich zwei Platten der Erdkruste unaufhaltsam ineinander.
Die aufgebaute Spannung wird sich, davon gehen Seismologen aus,
in einem Großbeben der Stärke 8 entladen. Erwartete Tsunami-Höhe:
fünf bis acht Meter. Vorwarnzeit: etwa fünf Minuten. Direkt
über dem vermuteten Epizentrum tickt eine Zeitbombe, die fünf
Atomreaktoren von Hamaoka.
Der in Japan lebende Autor Malte Jaspersen beschäftigt sich (ganz
eigennützig) mit der Frage, worauf er sich einzustellen habe, wenn
sich die Erde unter seinen Füßen in Bewegung setzt. Er nimmt an
Katastrophenschutzübungen in seiner Nachbarschaft teil, spricht mit
Erdbebenopfern, Feuerwehrleuten, Seismologen.
Malte Jaspersen
begann seine Rundfunklaufbahn bei Radio Bremen.
Er lebt seit 1989 in Japan, arbeitet für den Hörfunk der
ARD und anderer Länder. Sein Feature »Jishin« erhielt beim
Prix Italia 2005 den zweiten Platz. Zurzeit arbeitet er mit
der japanischen Vokalistin Haco und dem amerikanischen
Komponisten Carl Stone an einem Surround-Hörspiel für die
Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg und Radio Bremen.
Mittwoch, 5. April 2006
Die K
Szenen eines Drogenstrichs
Jens Jarisch
Zum Leben gehören auch einige dunkle, unverständliche und
beunruhigende Seiten. Der Tod zählt dazu, und auch die K, die
Kurfürstenstraße in Berlin. Eigentlich ist die K eine ganz normale
Straße. Die Schülerin Katrin steht hier, weiß aber nicht, warum
sie das tut. Der Verwaltungsangestellte Norbert fährt zur K, ohne zu
ahnen, was er hier sucht. Manuela, arbeitslos, braucht 25 Euro.
Der Baggerfahrer Horst ist hier, um seinem Hobby nachzugehen.
Die Rentner Kalle und Heinz sind nur zum Gucken gekommen,
obwohl es ja eigentlich gar nichts zu sehen gibt. Der Polizist Harry
findet Spuren von Betäubungsmittelmissbrauch. Mahmud ist hier,
um Drogen zu verkaufen, Sebastiano ist hier, um Drogen zu kaufen,
von dem Geld, das Angie hier verdient. Die Schülerin Katrin
fragt sich manchmal, warum sie auf dieser Straße steht. Doch die K
ist keine Straße, sondern eine dunkle, unverständliche und beunruhigende
Seite des Lebens.
Jens Jarisch
arbeitet als Autor, Regisseur und Produzent von Radio-Feature,
Hörspielen und Soundstories. Neben anderen Auszeichnungen
erhielt er für »Die K« den Åke-Blomström-Award der
International Feature Conference und den Prix Europa für das
beste europäische Radiofeature 2005.
Mittwoch, 3. Mai 2006
Wer war Gudrun Ensslin?
Ein Porträt
Margot Overath
Wer war Gudrun Ensslin? Geboren 1940 auf der Schwäbischen Alb
als viertes von sieben Kindern einer evangelischen Pfarrersfamilie.
Gestorben im »Deutschen Herbst« am 18. Oktober 1977 im
Gefängnis Stuttgart-Stammheim unter Umständen, die noch
heute viele Fragen aufwerfen – nicht nur für ihre Geschwister
und Freunde. Sie war ein außergewöhnlicher Mensch. Mit zwei
Leben, würde sie wohl sagen: einem Leben vor der Begegnung
mit Andreas Baader und einem Leben mit der RAF, der Rote Armee
Fraktion. Evangelische Jungscharführerin, Germanistikstudentin,
junge Verlegerin bis 1970. Danach aktiv in der außerparlamentarischen
Opposition, Kaufhausbrandstifterin und schließlich gesuchte
Terroristin. Die einen schätzten Gudrun Ensslin als verbindlich,
klug, freundlich und immer hilfsbereit. Sie konnte überzeugen und
mitreißen. Für viele andere war sie dagegen nur eine gewissenlose
Mörderin. Über Gudrun Ensslin sprechen in der Sendung ihre
Geschwister, zwei Freunde und zwei ehemalige RAF-Mitglieder.
Margot Overath
lebt in Ritterhude, arbeitet als freie Autorin
für alle Hörfunk-Anstalten der ARD und
erhielt für ihre Sendungen den »zivis-Preis«
und den »IFJ-Prize« der Internationalen
Journalistenförderation. Sie forschte beim
Hamburger Institut für Sozialforschung über
die RAF.
Mittwoch, 7. Juni 2006
Der Ball ist bunt
Geschichte und Geschichten des Fußballspiels in Deutschland
Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza
Fußball ist Konfession und Karneval, Stelldichein und Medien-Event.
Quer durch alle Schichten ist dieser Sport längst zu einem
Verständigungsmedium geworden. Das war nicht immer so. Als der
Braunschweiger Turnlehrer Konrad Koch 1874 seine Schüler zwei
»Gespielschaften« bilden ließ und mit einer lederummantelten
Schweinsblase die Geburtsstunde des Fußballs in Deutschland einleitete,
sahen sich die Kicker Hohn und Spott ausgesetzt. Es gab
Strafbefehle gegen den öffentlichen Kick wegen »Missachtung der
Sonntags- und Feiertagsheiligung«, und »Lustbarkeitssteuern«
wurden verhängt.
Das Feature zeigt die schillernde Entwicklung des Fußballspiels in
Deutschland: die »internationalistischen« Länderspiele der Arbeiternationalelf,
Fußball in der NS-Zeit, das Frauenfußball-Verbot, die
»Bunten Ligen«, das »Wunder von Bern«, die WM-Euphorie 2006.
Eduard Hoffmann
lebt in Aachen. Er studierte
Germanistik und Publizistik
und arbeitet als freier
Radio-Journalist für den
Hörfunk der ARD-Sender.
Er schreibt für die
Frankfurter Allgemeine
und das Süddeutsche
Magazin über Kultur,
Sportgeschichte,
Buntes.
Mittwoch, 6. September 2006
»Innerlich unerhört finde ich den Ort.«
Autistische Zwillinge – eine Annäherung
Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz
Als die Zwillinge Konstantin und Kornelius ein Jahr alt sind, plappern
sie Mama, Papa, Ball und Auto – wie andere Kinder auch. In
den nächsten Jahren aber kommt kein neues Wort dazu. Ihre Eltern
befragen Spezialisten – ergebnislos. Die Diagnose »Autismus« stellt
die Mutter – eine Kinderärztin – schließlich selbst. Und sie trifft
eine Entscheidung: Die Kinder sollen nicht ängstlich behütet
aufwachsen. Konstantin und Kornelius besuchen den Kindergarten,
sie werden eingeschult. Die Jungen haben Glück: Ein offenes Elternhaus,
interessierte Lehrer – und die in den USA entwickelte
Methode des gestützten Schreiben ermöglichen es, das zu zeigen,
was in ihnen steckt. Zu Tage kommt umfangreiches Wissen, vor
allem ein erstaunliches Sprachgefühl. Die Zwillinge, die bis heute
kaum sprechen, teilen sich der »Außenwelt« über Texte und
Gedichte mit. Konstantin und Kornelius haben erfolgreich ihr Abitur
gemacht.
»ungenanntes wort, sieh, wie ich mich quäle. leise schwirrend bist
du da, und ich fliege, fliege, freudig seufzend fliege ich dir nach.« Konstantin
Rosemarie Mieder
geboren in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), studierte
Journalistik. Sie war leitende Redakteurin der Zeitung
eines Berliner Konfektionsbetriebes, seit 1990 freie
Journalistin.
Gislinde Schwarz
geboren in Halle, studierte Journalistik, arbeitete als
leitende Redakteurin bei der Frauenzeitschrift FÜR DICH,
seit 1991 freie Journalistin.
Beide sind Autorinnen von Radio-Feature und Gerichtsreporterinnen,
sie wurden mit dem Robert-Geisendörfer-Preis
der Evangelischen Kirche ausgezeichnet. Für ihr Feature
»Innerlich unerhört finde ich den Ort« erhielten sie den
Ravensburger Medienpreis.
Mittwoch, 4. Oktober 2006
Papa holt Euch nach Hause!
Internationale Kindesentführung
Detlef Michelers
Mitte 1997. Nach achtjähriger Ehe trennen sich die 33-jährige
Französin Cosette Lancelin und ihr 55-jähriger Ehemann,
Armin Tiemann, Samtgemeindedirektor in Kirchdorf. Cosette
Lancelin kehrt auf den Bauernhof ihrer Eltern in der Nähe von
Blois an der Loire zurück, nimmt ihre Kinder ohne Zustimmung
ihres Mannes mit.
April 1998. Armin Tiemann engagiert einen Sicherheitsdienst, lässt
die Kinder in einer gewagten Aktion nach Deutschland bringen und
erklärt die Kindesentführung zur »Rückführung«. Den Kampf um
die Kinder trägt der Vater bis vor das Bundesverfassungsgericht.
1999 werden die Kinder der Mutter zugesprochen. Seitdem leben
sie in Frankreich. Auch der letzte Versuch des Vaters, vor der
Menschenrechtskommission in Straßburg zu klagen, scheitert. Ende
2000 wird die Ehe geschieden.
Drei Jahre lang verfolgte der Autor diese Entwicklung, sprach
immer wieder mit den Eheleuten. Mit ihren Aussagen rekonstruieren
sie nicht nur die Geschichte ihrer Beziehung, sondern machen
auch die juristischen Hintergründe und Mängel des europäischen
Rechts deutlich.
Detlef Michelers
lebt heute als freier Autor in Bremen und Berlin. Er verfasst
Radio-Feature, Erzählungen, dokumentarische Literatur,
Krimistories und Hörspiele. Seine Feature wurden mehrfach
ausgezeichnet. Für das Feature »Papa holt euch nach Hause«
erhielt er den internationalen Hörfunkpreis Premios Ondas.
Mittwoch, 1. November 2006
Das Schiff ist ein verschwiegener Ort.
Blinde Passagiere. Der Fall »Maersk Dubai«
Rainer Kahrs
Der junge taiwanesische Kapitän Cheng Shiou steht schon weit
oben auf der Karriereleiter. Gerade 34 Jahre alt, bekommt er von
seiner Reederei die Befehlsgewalt auf der »Maersk Dubai«, einem
Containerriesen.
Kaum ist Cheng Shiou Kapitän auf dem Pott, hat er ein Problem:
Im spanischen Hafen Algeciras schlichen sich zwei blinde Passagiere
an Bord. Das gibt Ärger mit Reederei und Hafenbehörden, er
muss die blinden Passagiere deklarieren, das kostet Strafe, Zeit und
vielleicht einen Knick in seiner makellosen Karriere.
Cheng Shiou und seine Offiziere, alles Taiwanesen, zwingen die
beiden blinden Passagiere in den kalten März-Atlantik zu springen.
Überlebenschance: keine. Die philippinische Mannschaft, die alles
gesehen hat, verdonnert der Kapitän zum Schweigen. Als sich
erneut zwei blinde Passagiere an Bord schleichen, fliegt der eine
ins Meer, der andere wird heimlich versteckt von der aufmüpfigen
Mannschaft. Und als das Schiff im kanadischen Halifax ankommt,
stürmt die Polizei die »Maersk Dubai« mit Waffengewalt.
Rainer Kahrs
ist Fernseh- und Hörfunkjournalist und lebt in Bremen.
Er ist Redaktionsmitglied bei buten un binnen. Besondere
Vorliebe: intensive Recherche-Themen und Feature
über Rüstungsgeschäfte, indonesische Politikerkarrieren
oder über Wachkoma-Patienten in Deutschland.
Mittwoch, 6. Dezember 2006
Hasso, der schicke Flottillenadmiral
Die erstaunliche Zunahme der Liebe zum Tier
Anja Kempe
Der Rapstar DMX lässt seinen Pitbulls warme Mäntel im Military-Look
nähen: »Ich mag Hunde viel lieber als Leute! Yeah!« Ein
Tierfreund schwört auf Rollstühle für altersschwache Hunde und
Katzen. Eine Single-Frau ist überzeugt: »Bevor ich mir noch mal
einen Mann anschaffe, schaff’ ich mir lieber noch einen Hund an.«
Längst sind die Supermarkt-Regale für Tierfutter größer als die
für Babynahrung. Der Industrieverband für Heimtierbedarf meldet
ein Umsatzvolumen 2,9 Milliarden Euro im Jahr. Und in Berlin
wurde das größte und nobelste Tierheim der Welt gebaut, eine
Luxusherberge mit Sonnenterrassen und Fußbodenheizungen für
36,3 Millionen Euro, ohne einen Cent vom Staat, nur von
Spendengeldern.
Deutschland liebt Tiere, schaut am liebsten Tierfilme, wählt bevorzugt
tierliebe Politiker und gibt den letzten Euro für den Tierschutz
her. Laut Umfrage halten die meisten Menschen Tierquälerei für
ein größeres Verbrechen als Kindesmisshandlung. Das Tier – des
deutschen liebstes Kind?
Anja Kempe
geboren in Bremerhaven, studierte
Politik und Germanistik. Sie lebt als
freie Autorin in Köln und arbeitet
für Hörfunk und TV.