So, 28.05.2023
„Was mich antreibt ist Mitleid und Hass“
Hells Angels, Prostitution oder Nazi-Vergangenheit: Er recherchiert viele Jahre zu brisanten Themen. Ein Gespräch mit dem Bremer Journalisten Michael Weisfeld über das, was ihn antreibt und umtreibt.
Du arbeitest an kontroversen und harten Themen: über Rechtsextremismus, Söldner, Hells Angels, Kinderprostitution und bei Deinem letzten Radiofeature ging es um sexuelle rituelle Gewalt. Wieso diese harten Themen?
Das ist eine Frage, die zielt auf die dunkle Seite der Seele. Da wirken psychische Kräfte, von denen ich selbst nicht viel weiß. Also das Dunkle, Gewalt und das Verbrechen, das interessiert mich. Ich habe also einen kleinen Knall, okay. Aber das kann mir auch bei der Arbeit helfen. Denn diese dunklen, gewalttätigen Seiten unserer Gesellschaft werden verdrängt und geleugnet. Zum Beispiel Prostitution, damit habe ich mich eine Zeitlang beschäftigt. Da wird mitten unter uns ständig Gewalt gegen Frauen ausgeübt, so sehe ich Prostitution. Prostituierte werden innerhalb weniger Jahre seelisch und körperlich irreparabel ruiniert. Und wir alle tun so, als sei das völlig normal.
Wie bist du denn an dieses Thema geraten?
Ich habe vor mehr als zehn Jahren eine Sendung über die Hells Angels gemacht. Es gibt Rocker, die zwingen Frauen zur Prostitution und betreiben Bordelle. Und sie haben hier in Bremen ein neues Bordell aufgemacht, mit Billigung des Bremer Senats, also von höchster Stelle. Das hat mich empört. Bei den Gesprächen mit Prostituierten und ehemaligen Prostituierten habe ich erfahren, dass viele schon in ihrer frühesten Kindheit sexualisierte Gewalt erlitten haben. Das gibt es ja leider massenhaft. Einige sogenannte Missbrauchskomplexe sind öffentlich geworden. Sie sind mit Ortsnamen verbunden: Wermelskirchen, Staufen, Lügde, Münster. Dort wurden riesige Mengen an Video-Aufnahmen und Fotos von der Polizei gefunden, wo Täter ihre eigenen Verbrechen filmen und mit diesen Dokumenten Handel betreiben - und auch die Kinder an andere pädophile und sadistische Männer verleihen.
Warum ziehen Dich diese gewaltigen Themen so an? Und: Wie hältst Du das aus?
Die Opfer tun mir unendlich leid. Das wird jedem so gehen, der sich von den seelischen und auch körperlichen Lasten berichten lässt, die sie ihr Leben lang mit sich schleppen. Und zugleich entwickelt sich ein Hass auf die Menschen, die kleinen Kindern so extreme Gewalt antun.
Ein Teil dieser Täter gehört bestimmten Zirkeln an, die diese sexuelle Gewalt mit rituellen, religiösen, weltanschaulichen Vorstellungen verbinden. Das kann Satanismus sein. Das kann Nazitum sein. Eine der Frauen, mit denen ich gesprochen hab, sagte, dass ihr Opa ein überzeugter Nazi war. Er blieb es bis zu seinem Lebensende. Den Lagerarzt vom KZ Auschwitz, Josef Mengele, verehrte er bis zum Schluss. Er war stolz, dass er das, was Mengele im KZ Auschwitz angefangen hat, in seiner eigenen Familie weitermachen konnte. Und dieser rituelle Aspekt, der wird weitgehend geleugnet, auch in großen Teilen der Kirchen und der Medien.
Kann man sagen, dass Mitgefühl und Hass die stärksten Triebfedern deiner Arbeit sind?
Ja, da ist was dran. In den Medien wird ja oft behauptet, sexualisierte Gewalt gegen Kinder habe in vielen Fällen gar nicht stattgefunden, sondern sei erst viele Jahre später den Opfern von Therapeutinnen eingeredet worden. Das ist ungeheuerlich, denn den Opfern, die gelitten haben und nachweislich krank sind, wird auf diese Weise generell die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Und ihren Therapeut*innen gleich mit. Diese Ansicht vertritt zum Beispiel der Verein, „False Memory Deutschland“. In diesem Verein sammeln sich überwiegend Männer, die von ihren Töchtern der Vergewaltigung beschuldigt wurden. Leitende Leute in den Kirchen argumentieren ebenso wie der Verein False Memory und schützen damit die Täter, und wenn ich auch nur ein kleines bisschen dazu beitragen könnte, die Glaubwürdigkeit der Opfer zu stärken, da wäre ich sehr zufrieden.
Hast du nicht Angst, in diesem von starken Emotionen bestimmten Trubel die journalistische Distanz und den kritischen Blick auf alle Beteiligten zu verlieren?
Doch. Ich muss mich immer wieder daran erinnern: Schwindeln kann jeder. Sich ungenau erinnern, manches durcheinander bringen, das kann auch den Menschen passieren, denen meine Sympathie gehört. Ich darf auch nie vergessen, dass das Gespräch mit einem Reporter für jeden eine Gelegenheit ist, ihm genau die Botschaft mit zu geben, die einem in den Kram passt. Ich muss also immer einen gewissen Abstand wahren und mich fragen: Ist das plausibel. was mir erzählt wird, passt das zu anderen Berichten?
Bei der Sendung „Falsche Erinnerung? Doku über False Memory und sexuelle Gewalt“ war ich besonders vorsichtig, weil das Thema ja sehr umkämpft ist. Am Anfang stelle ich die Frage, was ist wahr? Haben die Frauen das erlebt, was sie berichten oder wurde es ihnen suggeriert? Und dann kommen verschiedene Leute mit verschiedenen Ansichten zu Wort und ich kommentiere die O-Töne im ganzen Stück nicht.
Im SRF, dem Schweizer Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, ist man beim Thema ritueller sexueller Gewalt sehr engagiert: Sie stellen viele Berichte in Frage.
Ja, die haben die Ansicht des False-Memory-Vereins übernommen. Sie empören sich über die Therapeutinnen, die den betroffenen Frauen angeblich falsche Erinnerungen einreden. Okay, das kann man machen, wenn man dafür Belege findet. Aber sie setzen die Empörung an den Anfang. Dabei nutzen sie besonders den empörten Gesichtsausdruck des Reporters, der seine Nase immer wieder und lange ins Bild hält: „Das kann doch nicht sein! Das gibt´s doch nicht!“ So bedient er die Gemütslage der allermeisten Menschen in unseren wohlhabenden, überwiegend friedlichen Gesellschaften: So etwas Schreckliches wie rituell sexualisierte Gewalt gegen kleine Kinder ist nicht denkbar! Leider haut der SPIEGEL im März 23 in dieselbe Kerbe unter dem Titel: „Im Wahn der Therapeuten“. Auch der Vorspann des Artikels macht überdeutlich, dass es sich bei den Berichten der Opfer um Suggestionsprodukte handelt. Ich finde, so kann man als Journalist*in nicht vorgehen.
Die Kolleg*innen vom SRF haben sich übrigens beim Intendanten der ARD beschwert über mein Stück: Wie die ARD dazu käme, Verschwörungsmythen zu verbreiten.
Wie hat die ARD-Intendanz reagiert?
Das wurde mir nicht mitgeteilt. Der False-Memory-Verein wollte erreichen, dass die Behauptung, die in meinem Stück angeblich drin ist, nämlich, dass False Memory Täter unterstützt, dass die nicht wiederholt wird. Was wahrscheinlich darauf abzielte, dass das Stück aus der ARD-Mediathek entfernt wird. Der Sender hat diese Forderung von False Memory zurückgewiesen. Dann wurde eine Klage angedroht. Soweit ich weiß, ist diese Klage nicht beim Gericht eingegangen.
Schwierig ist, dass Erinnerungen ambivalent sind.
Ja natürlich. Erinnerungen sind plastisch, also man kann sie formen. Dieses Argument ist bestechend. Woran du dich erinnerst, das wird heute zusammengesetzt in deinem Gehirn, das hat mit deinem tatsächlichen Erleben vor Jahren nur bedingt zu tun. Jeden Tag schreibst du deine Lebensgeschichte neu, nach deinen jetzigen Interessen, nach deiner jetzigen Lebenssituation. Das mag alles sein. Aber es ist ganz etwas anderes, als zu behaupten: Du hast das Schlimme deiner frühen Kindheit nicht erlebt! Man hat es dir suggeriert, mit irgendwelchen psychotherapeutischen Methoden. Mir haben betroffene Frauen berichtet, dass sie unter plötzlichen Erinnerungsüberflutungen gelitten haben, sogenannten flash-backs, und dass sie mehrfach versucht haben, sich umzubringen, und zwar ehe sie eine Therapie angefangen haben. Diese flash-backs und die Selbstmordgedanken haben sie erst dazu gebracht, sich therapeutische Hilfe zu suchen.
Es ist nicht einfach, sich monatelang mit diesen gewalttätigen Themen zu beschäftigen. Deshalb noch einmal die Frage: Wie hältst Du das aus? Und: Reizen Dich auch Themen, in denen es eher um schöne Dinge geht?
Ich hab auch schon schöne Themen in meinen Sendungen behandelt, aber jetzt ist das Düstere wieder im Vordergrund. Und auf Deine Frage eingehend: Ich leide natürlich. Wenn ich da Gespräche geführt habe, bin ich manchmal richtig fertig. Andererseits bin ich Zeuge eines ständigen Kampfs geworden, der großenteils im Verborgenen geführt wird, und mich immer wieder sehr interessiert.
In den satanistischen und anderen Gruppen werden Kinder seelisch so zugerichtet, dass sie bis weit in ihr erwachsenes Leben den Tätern gegenüber gehorsam bleiben und also ausgenutzt werden können, meistens für Prostitution. Aber immer wieder gelingt es jugendlichen und erwachsenen Frauen, sich zu lösen, und dann entwickelt sich so etwas wie ein Partisanenkrieg. Man muss einer Frau, die es schafft, von ihren kriminellen Eltern oder sonstigen Verwandten wegzukommen, einen Fluchtweg öffnen. Da muss es geschützte Räume geben. Da muss es Transportwege geben. Da muss es Kommunikationswege geben, die von den kriminellen Elementen nicht eingesehen werden können. Manchmal kommen die Frauen davon, manchmal kehren sie zurück und kommen wieder unter die Räder. Ich habe viel Respekt vor den Therapeutinnen, die sich um diese schwierigen Frauen kümmern, ihnen zu einem inneren Ausweg verhelfen. Und auch Respekt vor den Fluchthelfer*innen, die oft erreichen, dass die Frauen mit heiler Haut davon kommen. Der Kontakt mit diesen Menschen hilft mir auch das Bittere und Düstere dieses Themas zu ertragen.
Die NS-Zeit war noch nicht so lange vorbei, als du geboren wurdest. Könnte dies eine Rolle spielen bei der Auswahl Deiner Themen?
Ich bin in der Nazizeit geboren – im Jahr 1947. Hitler war tot, aber alle anderen waren – auch in meiner Umgebung - noch da. Ich habe ja einige Sendungen produziert, wo es um Krieg ging. Über Söldner zum Beispiel. Und ich glaube, dass in meinem Halbbewusstsein Krieg für mich was Schreckliches, Menschenfressendes ist, aber auch was Faszinierendes hat. Und das kommt vielleicht daher, dass diese Kriegs- und Nazi-Vergangenheit in meiner Kindheit sehr, sehr präsent war. Überall liefen sie rum, die Menschen, die den Krieg überlebt hatten – aber seelisch und körperlich verstümmelt. Und sie haben uns kleinen Unschuldigen ihren Kram erzählt, den sie im Kopf hatten.
Oder nichts erzählt …
Oder nichts erzählt und vieles verborgen, was wir als Erwachsene mühsam ausgraben mussten. Oder sie haben uns was vorgelogen. Da kommt sicher ein Teil meiner Aggression her, das glaube ich. Das war eine sehr gewalttätige Generation, die Generation meiner Eltern, und da ist vielleicht auf irgendeinem Weg, den ich nicht kenne, was auf mich übergegangen. Mein Vater war, als der Krieg zu Ende war, 38 Jahre alt. Der war zum Glück, zu seinem und auch zu unserem, kein Soldat. Aber er hat die ganze Zeit miterlebt. Ich glaube von der Gewaltorientierung dieser Generation ist, ohne dass ich jetzt meinen Eltern speziell Schuld geben möchte, was auf mich übergegangen.
Welche Reaktionen gab es auf dein Feature über ritualisierte, sexuelle Gewalt?
Das Thema ist zur Zeit besonders heftig umkämpft. Es gab fast begeisterte Zuschriften von Menschen, die bereit sind, den Opfern ritueller Gewalt zu glauben und sich von der Sendung ermutigt fühlten. Und es gab heftige Kritik von der anderen Seite, auch innerhalb der ARD, die mir aber nicht im Einzelnen weiter gereicht wurde. Hauptkritikpunkt: Ich hätte Verschwörungsmythen ins Radio gebracht. Alles in allem bin ich sehr froh, dass die Sendung ausgestrahlt worden ist, und zwar als „ARD-Radiofeature“, das bedeutet, sie war insgesamt 15 mal zu hören.
Im Internet geht die Debatte über das Thema stetig weiter. Kurz nach meiner Sendung brachte die taz einen langen, sehr, sehr guten Artikel: „Rituelle Gewalt: Eine ausgeblendete Realität“. Und im März kam der SPIEGEL mit „Im Wahn der Therapeuten“.
Was ist für Dich ein investigatives Feature?
Jedes Feature, wenn es ein gutes ist, ist investigativ. Und zwar insofern, als es tief in sein Thema eindringt. Sei es mit sensibel und aufmerksam geführten Interviews – oder mit einem Einbruchdiebstahl. Mein schönstes Erlebnis beim Hören ist, wenn die Autorin eine Ansicht des Themas beleuchtet hat, und dann wird der Vorhang weggezogen, und neue Aspekte auf das Thema werden gezeigt. Und nach einer Weile geht der Vorhang wieder auf die Seite und wir können wieder andere Perspektiven betrachten… und nach einer gewissen Sendezeit wieder … Das verlangt jedoch eine tiefe und intime Kenntnis des Themas. Bei den großen Fragen, die die Weltgeschichte betreffen, da denke ich mir, haben Leute wie ich überhaupt keine Chance. Das machen große Medien, die über Apparate und weltweite Verbindungen verfügen. Zum Beispiel die Geschichte, dass deutsche Millionäre und Kriminelle ihre Vermögen teils in der Karibik verstecken. Da hätten wir kaum Chancen. Also nimmt man sich Themen, die nicht oder zu wenig beachtet werden. Ich hab mich nie als investigativ betrachtet. In meinen Sendungen geht viel über persönliches Vertrauen und Geduld. Ich habe mal Sendungen über Headhunterinnen gemacht. Das sind Leute, die sich mit einer falschen Identität übers Telefon in Firmen einschleichen und unter Vorwänden Informationen heraus fragen. Da hab ich gedacht, das müsste ich eigentlich auch machen. Ich wusste ja von den Headhunter*innen, wie es geht. Ich hab mich aber nie getraut.
Dann zum Schluss noch die Frage, die uns als Hörkino-Veranstalter natürlich sehr interessiert: Wie ist es für Dich, wenn ein Stück von Dir im Hörkino vorgestellt wird?
Es ist sehr schön für uns Radiomacher. Sonst kriegen wir von unserem Publikum höchstens mal einen Brief und das auch eher selten. Das direkt bei der Veranstaltung zu erleben, wie es wirkt, das ist für uns eine schöne Form der Kommunikation. Da bin ich sehr froh drüber, dass es das Bremer Hörkino gibt.